Das Freie Aufstellen Gruppendynamik als Spiegel der Seele Olaf Jacobsen Verlag 2003 ISBN 978-3-936116-61-8 222 Seiten, Broschur 14,90 € BESTELLEN im Olaf Jacobsen Shop E-Book PDF 9,99 € (Olaf Jacobsen Shop) E-Book Kindle 9,99 € (Amazon)
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Die Freien Systemischen Aufstellungen sind im Jahr 2003 von Olaf Jacobsen begründet worden. Dieses Buch ist das allererste, das über das Freie Aufstellen geschrieben wurde, und bildet die Basis zu allen weiteren Büchern über diese effektive Selbsthilfemethode.
Das Freie Aufstellen nutzt das Phänomen der „Resonanz“ in unseren Gefühlen. Sogenannte „resonierende Empfindungen“ tauchen auf, sobald wir uns als Stellvertreter*in für die Probleme und Fragen anderer Menschen zur Verfügung stellen. Wir beginnen, die Personen oder Anteile des fremden Problems in uns selbst zu spüren, und bieten dadurch der aufstellenden Person einen Spiegel für ihr Anliegen.
Olaf Jacobsen entwickelte diese Methode, damit die resonierenden Empfindungen auch außerhalb eines therapeutischen oder fachlich geleiteten Rahmens von allen selbstständig genutzt werden können. Dadurch handelt es sich um die erste „echte“ Form der klientenzentrierten Systemaufstellung. Jede Person, die daran Interesse hat, sich mithilfe anderer Menschen ihr Anliegen spiegeln zu lassen und eigenverantwortlich Lösungen dafür zu finden, kann an einer Gruppe für Freies Aufstellen teilnehmen. Auch im Freundeskreis kann eine solche Gruppe selbstständig organisiert werden.
Entscheidende Textausschnitte:
Zum Geleit
„Unerforschlich einbegriffen leben wir in der strömenden All-Gegensei-tigkeit.“
Diesen Satz schrieb der Religionsphilosoph Martin Buber 1923. Angesichts der über ein halbes Jahrhundert später von Bert Hellinger initiierten „Familienaufstellungen“ ist dieser Gedanke geradezu prophetisch. Doch im Grunde handelt es sich dabei um ein Wissen, mit dem die Menschheit mehr oder weniger unreflektiert seit Anbeginn lebt. Jenseits gelehrter Philosophie und Psychologie greift Olaf Jacobsen dieses Thema wieder auf. Mit kritischem Blick für das Wesentliche und unter Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit entwickelt er das Prinzip solcher Aufstellungen weiter und eröffnet so ganz neue Aspekte. Die anderen werden zum Spiegel, in dem wir uns selbst „wahr“-nehmen können.
Im Vordergrund der von Jacobsen selbst praktizierten Aufstellungen steht nicht die Absicht, schnelle Heilung vorzuweisen, sondern zunächst einmal die, der Selbsterkenntnis auf die Sprünge zu helfen, denn sie ist die Voraussetzung jeder seelischen Gesundung. Auch dies ist ein menschheitsalter Gedanke. Mit ihm wurden die Pilger am Heiligtum in Delphi begrüßt: „Erkenne dich selbst!“
Die Art und Weise, wie Olaf Jacobsen seine persönlichen Beobachtungen und für das Gebiet der Aufstellungen revolutionären Erkenntnisse in diesem Buch darstellt, ist schon ein Beispiel, was so ein Spiegel bewirken kann.
Dr. jur. Frieder Lauxmann Karlsruhe, den 19. September 2003
Zur Vorgeschichte
Die Systemischen Aufstellungen üben eine ständig wachsende Anziehungskraft aus. Sie sprießen überall wie Pilze aus dem Boden und sind in den letzten zwanzig Jahren immer bekannter geworden.
Besonders ein Mann hat durch seinen (umstrittenen) Umgang mit dem Familienstellen und durch seine Einsichten dazu beigetragen, dass sich eine stetig wachsende Zahl von Menschen mit Aufstellungen auseinandersetzt: Anton ‚Suitbert’ Hellinger, kurz: Bert Hellinger. Es gibt inzwischen viele eindrucksvolle Veröffentlichungen von ihm und über seine Arbeit. Doch nicht nur er, sondern viele andere haben sich beruflich auf das Aufstellen konzentriert.
Einige bieten direkt das „Familienstellen nach Bert Hellinger“ an, andere gehen neue Wege und entwickeln weitere attraktive Formen der Systemischen Aufstellungen, z. B. Strukturaufstellungen, Homöopathische Aufstellungen, Drehbuchaufstellungen, Organisationsaufstellungen (für Firmen, Teams, Vorstände, …) usw. Dabei werden Aufstellungsabläufe, Prozesse und Erfahrungen oft schriftlich oder mit Hilfe von Videos dokumentiert und kommentiert.
In diesem Buch stelle ich eine „freie“ Form der Systemischen Aufstellung vor und gehe deshalb davon aus, dass Sie, liebe Leser, Aufstellungen bereits auf irgendeine Weise kennengelernt haben, sei dies durch Ausbildungen, Teilnahme an Seminaren, Workshops, durch Literatur oder Medien. Deshalb lasse ich eine ausführliche Erklärung von traditionellen Aufstellungsformen weg.
Eine grundlegende Einführung für Menschen, die mit Aufstellungen bisher wenig anfangen können, ist in meinem Buch „Das fühlt sich richtig gut an!“ (Kamphausen 2012) zu finden.
Wenn ich meine Erfahrungen mit dem Freien Aufstellen zu beschreiben versuche, erlebe ich öfter, dass Personen, die diese Beratungsmethode noch nicht kennen, sie auch kaum nachvollziehen können. Freies Aufstellen lässt sich schwer erklären. Man muss es selbst erleben. Und wenn ich hier über beeindruckende Zusammenhänge und berührende Erfahrungen schreibe, bitte ich jeden, sie immer wieder mit seinen eigenen Erlebnissen zu vergleichen.
Sowohl innerhalb der „Aufstellerszene“ als auch in der Öffentlichkeit wird über Aufstellungen oft diskutiert. Auf der einen Seite gibt es viele Begeisterte, die glauben, für sich eine geheimnisvolle Heilmethode entdeckt zu haben, auf der anderen Seite steht eine Vielzahl von Kritikern, die bestimmte Gefahren vermuten. Sie sind der Meinung, dass Menschen in eine emotionale Abhängigkeit geraten könnten, in eine Einschränkung ihrer Autonomie. Demütigungen, Missbrauch und Schädigungen der Psyche sind weitere befürchtete Folgen.
Es tauchen Fragen auf wie z. B.:
„Wer darf Aufstellungen auf welche Weise anbieten und leiten?“
„Welche Rolle spielt die Verantwortung eines Aufstellungsleiters?“
„Wie lässt sich das Phänomen der ‚repräsentierenden Wahrnehmung’ erklären und kontrollieren?“
Repräsentierende Wahrnehmung heißt: Für eine Aufstellung werden StellvertreterInnen (auch „RepräsentantInnen“ genannt) für z. B. die Familienmitglieder eines Teilnehmers aus einer (Seminar-) Gruppe ausgewählt. Beispielsweise sucht der Teilnehmer einen Mann für seinen Vater, eine Frau für seine Mutter und für sich selbst ebenfalls einen Stellvertreter. Ab dem Moment, in dem sie im Raum zueinander aufgestellt werden, spüren sie auf unerklärliche Weise bestimmte Energien oder auch „fremde“ Gefühle, die oft mit den Personen übereinstimmen, die vertreten werden.
Diese Übereinstimmungen werden immer wieder von den aufstellenden Teilnehmern bestätigt, sind aber wissenschaftlich weder belegt noch widerlegt. So kann man bisher nur von den immer wiederkehrenden beeindruckenden Erfahrungen der Teilnehmer ausgehen.
Durch diese „stimmigen“ Erlebnisse werden ab und zu Emo-tionen ausgelöst, sowohl in den Stellvertretern als auch in der Person, für die gerade diese Aufstellung durchgeführt wird. Das kann manchmal einzelne Teilnehmer gefühlsmäßig aufwühlen. Deswegen stellt sich auch die Frage, wer so einen Zustand wieder auffangen oder therapeutisch begleiten soll. Ist der Leiter dafür verantwortlich? Oder derjenige, der sich unwissentlich diesen Erfahrungen ausgesetzt hat? Oder soll beobachtet werden, ob sich der Zustand nach einer gewissen Zeit von selbst wieder legt?
Weitere Fragen sind:
“Müssen wir unser Weltbild verändern, wenn wir diese eindrucksvollen Gefühlsphänomene verstehen wollen?“
„Heilung oder Hokuspokus?“
„Hat die Aufstellungsszene mit ihren manchmal dogmatisch auftretenden Leitern Züge einer Sekte?“
Dogmatisch bedeutet an dieser Stelle:
Von einigen Seminarleitern werden bestimmte, faszinierende Zusammenhänge angewandt, die Bert Hellinger immer wieder zielbewusst formuliert:
- Schwere ungeachtete oder unverarbeitete Schicksale, die vor mehreren Generationen passiert sind, sollen bis in die Gegenwart wirken und sich wiederholen.
- Es existieren klare Rangfolgen in Familien.
- Achtungsvolle Sätze, die ein Stellvertreter zu einem anderen sagt, haben lösende Wirkungen (z. B. „Lieber Vati, liebe Mutti, ich gebe euch die Ehre“, „Ich achte dich und dein Schicksal“, „Ich habe dich so sehr vermisst“, „Jetzt sehe ich dich“, „Ich gebe dir einen Platz in meinem Herzen“, „Ich bin nur euer Kind“, „Du gehörst zu uns“ …).
- Verneigungen vor einer anderen Person, vor den Eltern manchmal bis zum Boden, geben Kraft.
- Es gibt schlimme Wirkungen durch Ausschluss und erlösende Wirkungen durch Anerkennung der Zugehörigkeit etc.
Diese verlockenden Erkenntnisse werden von einigen Seminarleitern den Teilnehmern nahegelegt, sie anzunehmen oder auszuführen, manchmal auch gegen deren Widerstand. Dabei gehen manche davon aus, dass diese Erkenntnisse eindeutige „Wahrheiten“ sind. Sie verschließen sich dadurch möglicherweise vor Alternativen, neuen Erfahrungen und „neuen Wahrheiten“ und verhalten sich auf diese Weise dogmatisch.
Anfang Mai 2003 fand die 4. Internationale Arbeitstagung zu Systemaufstellungen in Würzburg statt. In der letzten Veranstaltung, die als „Open Space“ durchgeführt wurde (eine von Harrison Owen vorgestellte Form der Gruppenselbstorganisation), bot ich eine Diskussionsrunde zum Thema „Gibt es eine Verantwortung des Aufstellungsleiters gegenüber anderen?“ an. Obwohl parallel zu meiner Anregung noch ca. 60 weitere Themen angeboten wurden, war ich der Meinung, dass hier ein großer Klärungsbedarf vorhanden und die Nachfrage entsprechend hoch sein müsste. Doch von über 2300 Tagungsteilnehmern zeigten sich nur 15 Personen interessiert.
Meine Überlegung war, dass wahrscheinlich viele diese Frage für sich geklärt haben bzw. sie als zweitrangig oder zu provokativ empfinden. Weitere Nachforschungen zeigten mir, dass oft Therapeuten und Seminarleiter diese Frage wie selbstverständlich mit „ja“ beantworten. Einige sind der Meinung, dass man grundsätzlich im Umgang mit anderen Menschen eine gewisse Verantwortung für diese trägt, im Rahmen von Aufstellungen also ganz besonders.
Im Dezember 2002 erschien in der Fachzeitschrift „Praxis der Systemaufstellungen“ (Heft 2/2002) ein Artikel von mir. Unter dem Titel „Die Konsequenzen eines jungen Aufstellungsleiters“ setzte ich mich ausführlich mit diesem Thema auseinander. Ich schrieb, dass ich es für eine Illusion halte, Verantwortung für andere Menschen übernehmen zu können. Deshalb wäre es auch möglich, dass Personen mit wenig therapeutischen Erfahrungen Aufstellungen organisieren und kraftvoll begleiten. Viel entscheidender sei, welche Sichtweise ein Mensch habe.
(Mein Artikel steht im Internet unter: www.olafjacobsen.com)
Erfahrene Seminarleiter und Teilnehmer erklärten daraufhin, es würde eine wichtige Rolle spielen, Menschen ein geborgenes Umfeld zu bieten, damit sie sich vertrauensvoll ihren Problemen und Emotionen stellen können. Selbstverständlich habe ein Leiter eine gewisse Mitverantwortung für die Teilnehmer in diesem geschützten Rahmen und benötige dazu langjährige therapeutische Erfahrungen.
Hinter der Frage, ob ein Leiter Verantwortung für andere Menschen übernehmen darf, soll oder überhaupt kann, verbirgt sich meiner Ansicht nach jedoch eine grandiose Chance: Wir haben die Möglichkeit, ein neues wertvolles und beeindruckendes Potenzial der Aufstellungsarbeit zu entwickeln – und damit gleichzeitig ein Potenzial unserer eigenen Sinne.
Zu dieser Diskussion schrieb mir der Jurist, Philosoph und Autor Dr. Frieder Lauxmann:
„Ihr Disput mit den arrivierten Aufstellern zeigt ein menschheits-altes Dilemma. Darüber hat ja auch Richard Wagner seine ‚Meistersinger von Nürnberg’ geschrieben. Junge Leute drängen sich in angestammte Pfründen und verunsichern die alten Meister mit neuen ungestümen Ideen. Welche Erfahrung gehört dazu, eine Oper oder gar eine Symphonie zu schreiben! Mit 12 komponierte Mendelssohn eine kleine Oper (Liederspiel) ‚Die beiden Pädagogen’, in der zwei Lehrer um die richtige Methode streiten. Ein ‚reifes’ und sehr witziges Werk. Und Mozart gar! Der hätte doch in seiner Kindheit noch gar nichts schreiben dürfen. Jahrelange Erfahrung ist sicher wichtig und notwendig. Deshalb hat ja auch Hans Sachs (bei Wagner) gesagt: ‚Verachtet mir die Meister nicht’. Und doch, oft ist Erfahrung nur Verkrustung und Verhärtung, sie ist oft der frischen und jugendlichen Intuition unterlegen. Neue Ideen sind meist wichtiger als nur Erfahrung. (…) Immerhin kann es Probleme geben, in denen Erfahrung gefragt ist. Man bräuchte beides.“
In mir entwickelte sich der Drang, andere davon überzeugen zu wollen, ja fast überzeugen zu „müssen“, dass Verantwortungsübernahme eindeutig eine Illusion ist. Ich fand die Sichtweise falsch, dass ein Mensch mit vielen Erfahrungen für einen anderen Menschen Verantwortung tragen kann. Der Standpunkt der anderen war der falsche, meiner dagegen der richtige. So stieß ich natürlich auf Widerstand. Man fühlte sich von mir angegriffen und ich bekam das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen.
Mit dieser Einstellung begann ich, an diesem Buch zu arbeiten.
Jeder sieht einen Teil der allumfassenden Wahrheit
Doch dann hatte ich in einem Workshop beim Begleiten einer Aufstellung eine wichtige Einsicht, die mich beide Seiten integrieren ließ. Ich erläuterte anschließend der Gruppe meine gerade neu gewonnene Erkenntnis mithilfe eines Beispiels:
„Ihr kennt die großen vierspurigen Straßenkreuzungen, bei denen der Fußgängerüberweg durch eine Verkehrsinsel in der Mitte in zwei Abschnitte unterteilt ist. Auf dieser Verkehrsinsel stehen für die Fußgänger ‚Zwischenampeln’. Als ich bei Grün über die Straße ging, kam mir beim Überqueren des zweiten Abschnitts ein Auto entgegen. Es wollte abbiegen, musste aber darauf warten, bis ich die Straße vollständig überquert hatte. Der Autofahrer hupte, machte aufgeregte Handzeichen, wirkte wütend und fuhr dicht an mich heran. Nachdem ich endlich vorbeigegangen war, flitzte er hinter mir mit quietschenden Reifen davon. Ich wunderte mich und verstand ihn nicht, denn ich hatte doch nichts verkehrt gemacht. Meine Ampel vor mir zeigte die ganze Zeit Grün an. Als ich mich umdrehte, sah ich hinter mir, dass die Fußgängerampel auf der Insel bereits auf Rot stand. Ich verglich noch einmal mit der Ampel, auf die ich zugegangen war: … immer noch grün.
Jetzt konnte ich das Verhalten des Autofahrers nachvollziehen. Er war der Meinung, ich würde gemütlich bei Rot über die Straße gehen. Denn er sah von seinem Standpunkt aus nur die rote Ampel und ich von meinem Standpunkt aus nur die grüne.“
Die Tatsache, dass wir von verschiedenen Standpunkten aus immer Verschiedenes wahrnehmen, ist für mich eine entscheidende und erlösende Einsicht. Denn jetzt weiß ich:
Jeder hat Recht.
Haben zwei Menschen unterschiedliche Sichtweisen, so liegt das daran, dass sie von unterschiedlichen Standpunkten aus schauen. Hätten beide denselben Standpunkt, würden sie auch das Gleiche sehen. Dabei gehört zum Standpunkt nicht nur der äußere Ort, sondern auch die innere Ein-„stellung“.
Jeder Mensch sieht immer nur einen Teil der ganzen Wahrheit, von seinem eigenen Standpunkt aus.
Und alles, was gesehen wird, gehört zum Ganzen dazu.
Wenn wir eine Aufstellung beobachten, stellen wir fasziniert fest, dass Stellvertreter, nachdem sie aus der Gruppe ausgewählt und aufgestellt wurden, verschiedene Gefühle entwickeln. Dabei ist es als Zuschauer schwer, ihre Gefühle nachzuvollziehen. Steht man selbst an der Stelle des Stellvertreters, spürt man oft überraschend Ähnliches.
Diese Tatsache führt dazu, dass ein (von „außen“ führender) Aufstellungsleiter die Stellvertreter immer fragen muss, wie es ihnen an ihrem Platz ergeht und was sie fühlen. Erst dann kann er Veränderungs- oder Lösungsvorschläge machen, denn er nimmt die Gefühle der Stellvertreter nicht selbst wahr.
Die Gefühle und Sichtweisen eines anderen Menschen können wir nicht nachvollziehen. Wollen wir ihn verstehen, dann müssen wir entweder seinen Standpunkt einnehmen oder ihm Fragen stellen. Betrachten wir ihn nur von unserem Standpunkt aus, so sehen wir ihn anders, gefärbt durch unsere Sichtweise. Oft nehmen wir an, dass es „wahr“ sei, was wir sehen. Wenn wir aus dieser „Wahr“-nehmung aber Behauptungen entwickeln, kann das zu Auseinandersetzungen führen. Viele kennen das aus ihrem Alltag. Beobachten wir Aufstellungsleiter, wie sie Aufstellungen begleiten, dann erleben wir, was sie für beeindruckende Interventionen machen, wie sie zielsicher die Stellvertreter umstellen, was sie ihnen für versöhnende und lösende Sätze vorschlagen, die sie zu anderen Stellvertretern sagen sollen, oder was die Leiter selbst für klare Sätze sagen und als Behauptungen in den Raum stellen. Wir fragen uns: Woher weiß er das alles?
Aber vielleicht tun oder sagen wir ja Ähnliches, wenn wir an seiner Stelle stehen würden?
Ich empfand das Verhalten eines bestimmten Aufstellungsleiters oft als unangenehm und unpassend und dachte mir, dass ich an seiner Stelle sicherlich ganz anders handeln würde. Er schien manches besser zu wissen, gab dem Klienten „wissende“ Ratschläge, was zu tun sei, oder konfrontierte ihn mit einer „Wahrheit“. Ich hatte das Gefühl, er würde den Klienten überrollen, ihm seine Verantwortung abnehmen, sich über ihn stellen.
Als er dann jedoch meine eigene Aufstellung begleitete, fühlte ich mich plötzlich geborgen. Es passte, was er sagte, es half mir und unterstützte mich. Es gab nichts, was in mir einen Widerstand weckte. Ich empfand ihn als rücksichtsvoll, einfühlsam und klar.
Anfangs verwirrten mich diese Erfahrungen, bis mir klar wurde, dass ich nie das Ganze sehe, sondern von meinem Standpunkt aus immer nur einen unvollständigen Teil wahrnehme. So kann ich mir als Beobachter immer öfter sagen, dass der Leiter für den Klienten in diesem Moment einen für ihn passenden Spiegel darstellt.
Genauso ging es mir mit Bert Hellinger. Wenn ich ihn bei der Arbeit mit anderen beobachtete, hatte ich innerlich ab und zu etwas zu kritisieren. Doch als er mir in Bezug auf die erste Manuskriptfassung dieses Buches eine kurze Rückmeldung gab, erlebte ich darin einen für mich stimmigen Spiegel. Ich konnte auf vielen Ebenen Übereinstimmungen zu meinem tiefsten Gefühl entdecken, fühlte mich unterstützt, auf der anderen Seite dort „ertappt“, wo ich abwertete und ausschloss, und sah das Wichtigste ans Licht gebracht.
Ich musste ihn erst im Kontakt mit mir selbst erleben, damit mir bewusst werden konnte (wahrscheinlich nur ansatzweise), auf welchen Ebenen er kommuniziert, wie umfassend sein Spektrum ist. Wenn ich nur beobachte, wie er mit anderen arbeitet, hat es natürlich auf mich eine völlig andere Wirkung. Ich befinde mich dabei weder auf seinem Standpunkt noch auf dem Standpunkt des Klienten. Daher kann ich mich in den dort stattfindenden Prozess gar nicht wirklich einfühlen. Ich nehme immer nur meine eigene Deutung der Situation wahr, kann über sie also nicht objektiv urteilen.
Seitdem schaue ich anders auf Menschen, die miteinander agieren. Ich ziehe mich innerlich zurück und weiß, dass ich mich dort nicht hineinversetzen kann. Ich weiß auch nicht, ob das gut oder schlecht ist, was sie miteinander durchmachen, oder wer Opfer und wer Täter ist.
Wenn ich mir auf diese Weise bestimmte Auseinandersetzungen von Aufstellern untereinander und zwischen Aufstellern, kritischen Psychologen und der Öffentlichkeit anschaue, weiß ich jetzt: Alle haben Recht, jeweils von ihrem Standpunkt aus gesehen. Und jeder weiß es besser, wie es sich auf seinem eigenen Standpunkt anfühlt, als die anderen, die dort nicht stehen. Ob diese Auseinandersetzungen berechtigt sind, kann ich von meinem Standpunkt aus nicht beurteilen. Ich kann auch nicht wissen, in welchem Zusammenhang sie stehen oder welche Ursache dahinter steckt.
Wollen wir uns miteinander versöhnen, so haben wir die Möglichkeit, uns so gut wie es geht auf den Standpunkt des anderen zu begeben oder ihm Verständnisfragen zu stellen, um seine Gefühle oder seine Sichtweise mithilfe unserer Erfahrungen ansatzweise nachvollziehen zu können. Dazu müssen wir bereit sein, uns von unserem eigenen Standpunkt wegzubewegen und mit unseren Möglichkeiten in den Standpunkt des anderen einzufühlen (mit der Gewissheit: Wir können jederzeit zu unserem Standpunkt zurückkehren). Bleibt jedoch ein Missverständnis bestehen, so können wir diesen Unterschied zwischen uns auch anerkennen und achten wie er ist:
Von der einen Seite sieht man eben Rot und von der anderen Grün – zu einer bestimmten Zeit.
Die Aufstellungen mit ihren Gefühlsphänomenen sind ein geniales Hilfsmittel für uns, andere Menschen verstehen zu lernen und unseren eigenen Standpunkt zu wechseln. Wollen wir den anderen vollständig verstehen können, müssten wir uns auch vollständig in ihn verwandeln. Da dies aber nicht möglich ist, bleibt immer ein Unterschied, sprich: ein Missverständnis.
Fazit: Wir können immer nur nach dem „besten Missverständnis“ zwischen uns suchen.
Diese Erkenntnis macht es mir leichter, meine eigene Sichtweise gegenüber anderen zu vertreten und „Besserwisserei“ als dazugehörig anzuerkennen. Denn ich weiß: Bezogen auf meinen eigenen Standpunkt habe ich immer Recht. Und so geht es jedem. Jeder weiß „am besten“, was er von seinem Standpunkt aus wahrnehmen kann. Dabei ist mir bewusst: Ich nehme immer nur einen Teil vom Ganzen wahr, eben meinen Teil. So wie jeder nur seinen Teil vom Ganzen wahrnimmt.
Manchmal überschneiden sich diese Teile und wir nehmen übereinstimmend etwas Ähnliches wahr. Finde ich keine Übereinstimmung, dann liegt es an mir, ob ich meinen Standpunkt wechsle oder nicht. Und ich lebe mit den Folgen.
Auf diese Weise können wir uns gegenseitig helfen, das Ganze annähernd zu begreifen. So wie die fünf Finger einer Hand sich gegenseitig helfen, etwas zu (be)greifen. Jeder Finger hat einen anderen Standpunkt und gehört gleichzeitig zur ganzen Hand.
Meine in diesem Buch dargestellte Form des Freien Aufstellens ist ein Teil vom Ganzen und gehört genauso dazu, wie all das, was sich davon unterscheidet.
Auf der Arbeitstagung in Würzburg erfuhr ich, dass diese freie Art mit Aufstellungen umzugehen für viele wohl recht ungewöhnlich sei. Dort entstand in mir das Gefühl, eine „Marktlücke“ entdeckt zu haben, und ich kam auf die Idee, meinen Standpunkt in Bezug auf das Thema Verantwortung mithilfe eines Buches auszudrücken. In diesem Buch würde ich über meine Form der Aufstellung schreiben, die ich „Freie Systemische Aufstellungen“ nenne. Darin sind Verantwortungsabgabe und -übernahme nicht möglich.
Kein anderer Mensch als ich selbst trägt die Verantwortung dafür, ob, wann und wie ich in einen Spiegel schaue und wie ich mit der dadurch gewonnenen Einsicht umgehe.
Und auch ich trage keinerlei Verantwortung für jemand anderen, ob, wann und wie dieser in einen Spiegel schaut und was er aus seiner Erkenntnis macht.
Jeder lebt selbst mit den Folgen, die durch den eigenen (subjektiven) Blick in einen Spiegel ausgelöst werden. Ob man den Spiegel als klar oder verzerrt empfindet, kann man nur selbst be(ver)antworten.
Der Begriff „Spiegel“ meint in diesem Zusammenhang u.a.: Wenn Stellvertreter ganz ähnliche Gefühle der Personen in sich wahrnehmen, die sie vertreten, so funktioniert das auch in Bezug auf sich selbst. Sucht man für sich selbst einen Stellvertreter aus, kann man während der Aufstellung beobachten, was dieser in seiner Rolle berichtet. Erstaunlich oft findet man sich selbst in den Schilderungen des eigenen Stellvertreters wieder (= Spiegel). Die Chance, die sich hier bietet, ist, sich z. B. von dieser Person „beraten“ zu lassen oder ihr verschiedene Fragen zu stellen, die einem über manche Ausblendungen oder Unwissenheiten hinweghelfen können. Man kann auch „sich selbst helfen“, indem man überlegt und ausprobiert, wie und wodurch es seinem eigenen Stellvertreter besser gehen könnte. Die Rückmeldungen von ihm sind dabei wertvolle Hinweise.
Auch das Verhalten der übrigen Stellvertreter und des Aufstellungsleiters kann man als „Reaktion auf mein Problem“ deuten und so als Spiegel nutzen. Allerdings bleibt man selbst immer derjenige, der dieses Spiegelbild bewertet und entscheidet, wie man damit umgeht.
Mit diesem Buch lade ich Sie ein, diese Möglichkeit der gemeinsamen „selbstverantwortlichen“ Aufstellung als Spiegel ausführlicher kennenzulernen.
Eine neue gesellschaftliche Lebensform
In den Freien Systemischen Aufstellungen wird die (Verantwortung tragende) Leitungsfunktion aufgelöst. Wie geschieht das?
Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass das Phänomen der „repräsentierenden Wahrnehmung“ nicht nur in Aufstellungen stattfindet, sondern überraschend alltäglich ist, immer und überall entdeckt und von jedem genutzt werden kann. Nicht ohne Grund können sich die meisten Menschen verblüffend schnell mit diesen Aufstellungsphänomenen identifizieren, nachdem sie eine Aufstellung am eigenen Leib erfahren haben. Hier wird etwas geweckt, was unbewusst schon im Alltag angewandt wird: In den Aufstellungen erlebt man als Stellvertreter deutliche Gefühle. Sowohl emotionale als auch körperliche Symptome sind zu spüren, die oft dem Schicksal der Person ähnlich sind, die vertreten werden. Das entspricht unserer alltäglichen Empathie, die wir im Umgang mit anderen Menschen haben. Meistens sind im Alltag diese Sinne nicht so intensiv oder klar für uns. Wir halten sie zunächst noch für eigene persönliche Gefühle und erkennen nur selten die Ähnlichkeiten zu dem Schicksal oder der inneren Haltung des Gegenübers.
Ein Beispiel: Von einer Bekannten habe ich mich immer wieder abgewertet gefühlt. Ich sprach sie darauf an, doch sie hatte nicht das Gefühl, mich abzuwerten. Als ich später ihren Vater kennenlernte, hatte ich ihm gegenüber ein ähnliches Gefühl. Gleichzeitig entdeckte ich, wie sie ihren Vater hasste. Erst dann wurde mir bewusst, dass ich mit meinem Gefühl eine abwertende Dynamik erspürte, die meiner Bekannten gar nicht bewusst war. Sie lebte mit ihrer Abwertung in einem Abwertungs-Gleichgewicht zum Vater (Hass-Liebe) und hatte sich daran gewöhnt. Und ich bezog das, was ich fühlte, auf mich persönlich. Mein Gespür war jedoch eine repräsentierende Wahrnehmung.
Diese Wahrnehmungsform ist eine natürliche menschliche Gabe. Es ist eine Gefühls-Telepathie, eine besondere Form der Empathie, die überall wiederentdeckt werden kann. Ich nenne es auch gerne „mehrdimensionales Fühlen“.
Sobald wir in Kontakt mit einem anderen Menschen treten, stehen wir in Resonanz mit ihm, seinen Wünschen, Bedürfnissen und Problemen. Dabei befinden wir uns mit unseren Gefühlen und Verhaltensweisen oft automatisch und unbewusst in einem Gleichgewicht zum anderen. Manchmal fällt uns in solchen Situationen auf, dass wir uns anders verhalten als wir es eigentlich wollen. Mit diesen Stellvertreter-Gefühlen bieten wir dem anderen einen Spiegel, durch den er Erkenntnisse über sich selbst gewinnen kann. Umgekehrt können andere mit ihrem Verhalten oder ihren Gefühlen auch uns als Spiegel dienen.
Nehmen wir also ein Gefühl gegenüber einem Menschen wahr, dann können wir dabei lernen, dieses Gefühl nicht immer persönlich zu nehmen, sondern es zu deuten und neu damit umzugehen. Wir können uns fragen: „Was hat dieses Gefühl mit dem Schicksal oder der inneren Haltung des anderen zu tun?“, und beobachten, was uns im Laufe der Zeit dazu auf- oder einfällt.
Haben wir mit dieser Situation selbst ein Problem, dann können wir es auch für uns anwenden und uns fragen: „Was hilft mir?“ oder „Wogegen wehre ich mich gerade? Und was wäre, wenn ich mich nicht mehr dagegen wehren würde?“
Anschließend beobachten wir, was für eine Antwort wir uns selbst geben. So haben wir die Chance, etwas zu integrieren und damit die Sichtweise auf uns selbst zu erweitern.
Genauso können wir über uns selbst nachdenken, wenn uns jemand anderes mitteilt, wie er sich uns gegenüber fühlt. Wir können uns Fragen stellen und untersuchen, welche Ursache das Gefühl des anderen haben könnte, welchen Einfluss wir darauf haben, welchen Teil unseres Schicksals der andere gerade erspürt und wie wir neu damit umgehen wollen. Uns können neue Zusammenhänge bewusst werden. Auf diese Weise erweitern wir Schritt für Schritt unser „Selbstbewusstsein“.
Bisher wird diese natürliche Wahrnehmungsfähigkeit, die eine klare Basis der Aufstellungsarbeit bildet, bei vielen Berichten über Aufstellungen und bei allen Kritiken an der Aufstellungsszene und an Bert Hellinger ausgeblendet. Es erscheint den meisten als „zu unwirklich“. Die Kritiken beziehen sich stattdessen immer wieder darauf, dass manche Aufstellungsleiter in ausgrenzender und dogmatischer Weise mit Klienten umgehen und dass Bert Hellinger „Wahrheiten“ verbreitet. Dabei wird übersehen, wodurch er zu seinen Einsichten gelangen konnte: durch das, was sich mithilfe der repräsentierenden Wahrnehmung von Stellvertretern in einer Aufstellung „wie von selbst“ zeigt.
Natürlich wird alles, was sich zeigt, noch interpretiert und gedeutet. Hier (unter-)scheiden sich die Geister (im wahrsten Sinne des Wortes) und jeder sieht nur seinen Teil der ganzen Wahrheit. Doch dass sich in einer Aufstellung mithilfe der repräsentierenden Wahrnehmung etwas zeigt, bleibt. Und dass Hellingers Einsichten einen Teil der ganzen Wahrheit (ab)bilden, bleibt auch.
Ein neuer Teilnehmer meiner Workshops beobachtete dieses Phänomen und sagte am Ende des Tages, dass er dieses alles zwar sehr interessant fände, doch er würde lieber ein realistischer Mensch bleiben. Darauf antwortete ich, dass ich ihn verstehen könne. Allerdings hätte ich ebenso ganz stark das Gefühl, Realist zu sein. Ich erlebe konkret, dass sich diese Gefühls-Telepathie immer wieder zeigt. Sie funktioniert sogar, wenn die Stellvertreter gar nicht darüber informiert wurden, wen oder was sie vertreten sollen. Sie haben trotzdem passende Gefühle und verhalten sich spontan den Personen oder Dingen entsprechend, die sie vertreten. Ich nehme diese Erfahrung ernst, halte sie für realistisch und überlege mir, was ich bezüglich meines Weltbildes daraus für Konsequenzen ziehe.
Die Freien Systemischen Aufstellungen machen sich dieses Wahrnehmungsphänomen von Stellvertretern gezielt zunutze und setzen genau hier an. Dabei geht es darum, dass sich eine Gruppe von Menschen für eine Person zur Verfügung stellt, die eine Frage mitbringt. Die Gruppe spiegelt dieser Person in einem gemeinsamen „Rollenspiel“ ihr Anliegen – mithilfe der repräsentierenden Wahrnehmung – und macht dabei auch Deutungs- und Entwicklungsvorschläge.
Diese Gruppengemeinschaft stellt für alle eine Möglichkeit des (Mit-)Teilens und der Kooperation dar. Die teilnehmenden Menschen leben vorübergehend in einem Gleichgewicht, getragen von Neugier, Lust an Entdeckungen, Lösungen und Entwicklungen. Der Spaß, seine Kreativität im Problemlösen auszuleben, spielt eine weitere Rolle. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit verstärkt sowohl auf wechselseitigen Respekt und gegenseitige Achtung des individuellen Schicksals als auch auf die Fragen „Was wirkt?“ und „Was hilft?“.
Ich empfinde es als sehr sinnvoll, dieser neuen „Lebensform“ die Chance zu geben, sich frei auszubreiten und sich zu entwickeln, unabhängig von Seminaren, erfahrenen LeiterInnen und Aufstellungsschulen. Von meinem Standpunkt aus gehören Seminare, LeiterInnen und Schulen unbedingt dazu. Sie stellen Bedeutendes zur Verfügung. Ohne sie könnte ich jetzt nicht dieses Buch auf diese Weise schreiben, und ich bin sehr dankbar dafür. Eine Grundvoraussetzung für das Gelingen von Aufstellungen, wie es oft angenommen wird, bilden sie jedoch nicht.
Ich höre ab und zu von Teilnehmern meiner Workshops, dass sie zu Hause ausprobiert haben, mit Freunden bestimmte Situationen und Probleme aufzustellen. Sie konnten sich gegenseitig durch die repräsentierende Wahrnehmung hilfreiche Impulse geben. Und sie waren auch fähig, sich in angespannten Aufstellungssituationen selbstverantwortlich zurückzuziehen. Sie spürten, dass es ihnen als Stellvertreter an dieser Stelle zu belastend wäre, sich den „fremden Gefühlen“ hinzugeben. Selbst das hatte für sie eine interessante Spiegelwirkung.
Häufig wird übersehen, dass wir nicht nur die natürliche Fähigkeit zur repräsentierenden Wahrnehmung besitzen (und sie sogar täglich unbewusst nutzen), sondern gleichzeitig auch die Möglichkeit haben, Gefühle nicht zuzulassen. Wir können uns durch Rückzug vor ihnen schützen. Auf diese Weise halten wir in den alltäglichen Begegnungen mit anderen Menschen unser emotionales Gleichgewicht. Das „Zulassen“ und das „Abschalten“ von Gefühlen (oder auch: das „Gehen in“ und der „Rückzug aus“ Situationen) befähigt uns, selbstverantwortlich mit den Aufstellungsphänomenen umgehen zu lernen.
Deshalb kann der bewusste und eigenverantwortliche Umgang mit dieser Wahrnehmungsfähigkeit uns Menschen in eine neue gesellschaftliche Lebensform führen. Dazu wird eine Weltsicht gehören, in der verstärkt Integration und Verbundenheit eine Rolle spielen, weniger der Ausschluss und die Trennung. Man nutzt Problemgefühle immer weniger dazu, andere zu beschuldigen und sich gegenseitig zu bekämpfen, sondern erforscht und untersucht die Zusammenhänge, die dazu geführt haben, dass dieses Problem aufgetaucht ist. Man sucht sowohl in sich selbst als auch im Außen und gelangt dadurch zu einem umfassenderen Selbstverständnis.
Die Freien Systemischen Aufstellungen wollen dieser Entwicklung zur Seite stehen und nutzen dabei die Weltsicht der Verbundenheit aller Wesen. Ich werde später ausführlicher auf diese neue Lebensform eingehen (S. 184 ff.).
Aufstellungen „gehören“ allen, weil alle die Fähigkeit zur repräsentierenden Wahrnehmung haben. Wir machen im Alltag die Erfahrung, dass im Kontakt mit verschiedenen Menschen auch unterschiedliche Gefühle in uns wahrnehmbar sind, die uns teilweise in unseren Handlungen steuern, manchmal sogar gegen unseren Willen. Nachdem uns das immer öfter bewusst wird, gerade durch Aufstellungen, können wir neu und selbstverantwortlich lernen, damit umzugehen.
Fazit: Für das Durchführen einer Aufstellung ist die Anwesenheit eines verantwortlichen erfahrenen Leiters möglich, bei sehr schweren Schicksalen oder Krankheiten von Teilnehmern oft auch erwünscht und wirkt eindrucksvoll unterstützend.
Sie ist aber nicht immer notwendig.
In der ersten Hälfte dieses Buches stelle ich den genauen Rahmen der Freien Systemischen Aufstellungen vor. Dabei formuliere ich mehrere Regeln, die zeigen, worauf bei Freien Aufstellungen geachtet werden kann.
Ist das ein Widerspruch? Sind durch die Existenz von „Regeln“ Aufstellungen überhaupt noch frei?
Die hier von mir vorgestellte Form des Freien Aufstellens heißt „frei“, weil die aufstellende Person frei über die eigene Aufstellung bestimmen kann. Um diese Freiheit in jedem Moment ausüben zu können, bedarf es gewisser Regeln. „Frei“ bedeutet in diesem Sinne nicht, dass alle beteiligten Personen jederzeit alles tun dürfen, was sie wollen. „Freies“ Aufstellen ist „freies“ Entscheiden der Teilnehmer über ihre eigene Aufstellung.
Wer die „Spielregeln“ des Freien Aufstellens in diesem Buch genauer betrachtet, wird außerdem feststellen, dass es eher „Anti-Regeln“ sind, die immer wieder etwas erlauben und dadurch bisher vorhandene Grenzen der traditionellen Aufstellungsform öffnen.
Im folgenden Kapitel beginne ich mit der Beschreibung der „Leitungsfunktion“, weil sie einen Rahmen für Aufstellungen gibt und großen Einfluss auf sie hat. Wer Aufstellungen jedoch noch nicht kennt, dem empfehle ich, sich zunächst dem 2. Kapitel „Der Ablauf einer Freien Aufstellung“ zu widmen, bevor er sich mit der Leitungsfunktion auseinandersetzt. Für alle anderen halte ich die gegebene Reihenfolge für sinnvoller.
In der zweiten Hälfte dieses Buches setze ich mich für die an Theorie Interessierten ausführlicher mit der Frage auseinander, was Verantwortung ist. Dazu stelle ich mein Weltbild der Verbundenheit vor, das mir immer wieder die Kraft und das Vertrauen gibt, mich in das Freie Aufstellen „hineinfallen zu lassen“.
Am Ende des Buches finden Sie ergänzende Hinweise, z. B. zu der Möglichkeit, mit sich allein eine Aufstellung durchzuführen, oder zu rechtlichen Zusammenhängen: Wodurch macht man sich strafbar, wenn man Systemische Aufstellungen anbietet und leitet, ohne Arzt oder Heilpraktiker zu sein? Spannend sind auch die Entdeckungen, in welchen Situationen wir unbewusst „die repräsentierende Wahrnehmung im Alltag“ nutzen.
Besonders hinweisen möchte ich auf den Abschnitt „Gefahren“ im 3. Kapitel.
Ich freue mich, wenn von jedem Standpunkt aus wahrgenommen werden kann:
In diesem Buch schreibt ein Mensch über seinen ganz eigenen Standpunkt. Und von hier nimmt er einen Teil des Ganzen wahr.
(ab Seite 44:)
Ein Wechsel der Leitung kann eine Wirkung haben
Ich habe in einer Lerngruppe erlebt, dass der leitende Teilnehmer einer Aufstellung nicht mehr weiter wusste. Er fragte einen be-obachtenden Teilnehmer, der lösende Ideen zu der momentanen Problematik hatte, ob er die Leitung übernehmen würde.
In dem Moment, als die Leitung übergeben wurde, fielen den Stellvertretern in der Aufstellung neue Zusammenhänge auf, die sie spontan äußerten, ohne dass der zweite Leiter bereits etwas getan hatte. Die Aufstellung kam schnell zu einem lösenden Ende und der neue Leiter musste kaum helfend eingreifen.
Diese Situation war für den ersten Leiter ein Spiegel und er lernte etwas daraus. Der zweite Leiter deutete, dass lediglich sein Dasein als neuer Leiter unterstützend auf die Aufstellung wirken kann.
Nicht nur die äußeren Handlungen, sondern auch die inneren Einstellungen eines Gastgebers können den Gästen Raum zum Handeln geben.
Wir kennen dies aus anderen Situationen: Wenn uns zum Weinen ist, können wir es in der Gegenwart von Menschen oft nur zulassen, wenn wir uns bei ihnen aufgehoben fühlen, wenn ein „emotionaler Raum“ vorhanden ist. Haben die anderen Menschen eher Probleme mit Tränenausbrüchen oder kein Verständnis dafür, dann spüren wir selbst eine Bremse und halten die Tränen lieber zurück.
Diese Beispiele zeigen, dass ein Wechsel in der leitenden Person durchaus eine Wirkung haben kann.
Wenn sich also eine Gruppe trifft, um Aufstellungen durchzuführen, und die Teilnehmer haben unterschiedliche Erfahrungen mit Aufstellungen, dann kann in einer Aufstellung mehr Raum entstehen, wenn alle zusammenarbeiten. Das bedeutet: Stagniert die Aufstellung an einer Problematik und entwickelt sich nicht weiter, so könnte dies am gegenwärtigen Leiter liegen. Trägt dann die Idee eines Teilnehmers zu einem lösenden Schritt bei, den der Leiter auch zulässt, kann man darin einen Wechsel in der Leitung sehen. Der Teilnehmer übernimmt durch seine spontane Äußerung kurz die Führung (weil alle ihre Aufmerksamkeit auf ihn richten) und dadurch kann sich eine Aufstellung weiterbewegen.
Allein schon aus diesem Grund ist es in den Freien Systemischen Aufstellungen wichtig, dass jederzeit die Möglichkeit zum Wechsel in der Leitungsfunktion gegeben wird. Jeder Leiter muss bereit sein, die Leitung wieder abzugeben – vor allem in Momenten, in denen er nicht weiter weiß. Spricht er ehrlich sein Gefühl aus: „Hier weiß ich nicht mehr weiter“, und zieht sich zurück, wird er zum Beobachter. Auf diese Weise entsteht die Möglichkeit, dass ein anderer Teilnehmer durch einen plötzlichen Impuls oder eine Idee die Leitung übernimmt.
Gemeinsam wird dann auf die Stellvertreter geschaut, ob dieser Impuls weiterhilft oder eher unwichtig ist, weil z. B. kaum jemand darauf reagiert.
Ich ergänze hier also meine Aussage: „Je ehrlicher und offener der Organisator sich zeigt, desto ehrlicher und offener können sich die Teilnehmer verhalten und sich die Aufstellungen gestalten.“
Die Ergänzung heißt folglich: „Je deutlicher sich ein Organisator in seinem Gefühl zurückhalten kann, permanent eine Aufstellung leiten zu ‚müssen’, desto größer ist der Raum für Impulse von den Stellvertretern und aus der übrigen Gruppe und desto offener kann eine Aufstellung ablaufen.“
So können sich die Aufstellungen über den inneren Rahmen, den der Organisator vorab gestellt hat, hinausbewegen.
Während einer Aufstellung musste ich einmal als gastgebender Organisator dringend auf die Toilette. Beim Hinausgehen spürte ich, dass ich eine bestimmte „führende Energieform“ mitnahm. Anders gesagt: Ich hatte den Eindruck, dass sich jetzt die Gruppe „ohne Leiter“ fühlen würde, wenn ich gehe.
Draußen war ich überraschenderweise erleichtert (im doppelten Sinne) und ahnte, dass es der Gruppe vielleicht ähnlich ergehen würde. Als ich zurückkam, war ich erneut überrascht. Die Aufstellung hatte sich inzwischen verändert. Ein Stellvertreter, der vorher abseits stand, hatte sich zu einer Gruppe von anderen Stellvertretern dazu gestellt. So ging es allen Beteiligten besser.
Bevor ich hinausgegangen war, hatte ich das Gefühl, dass er sich eigentlich noch weiter weg stellen müsste. Ich hatte es aber nicht gesagt. Mit dieser inneren Erwartung habe ich möglicherweise die Aufstellung unbewusst beeinflusst, ihr also im Weg gestanden. Dabei konnte ich nur im Weg stehen, weil sowohl die Gruppe als auch ich immer noch das Gefühl hatten, ich hätte gerade als „Leiter“ für die Aufstellung eine bestimmte Rolle zu erfüllen. Durch mein Hinausgehen und „mich Entziehen“ aus der Leitungsrolle, konnte sich die Aufstellung mithilfe der Impulse der Stellvertreter weiterentwickeln. Hätte ich nur als Zuschauer und nicht als Leiter diese bremsende Erwartung gehabt, hätte es vielleicht die Aufstellung nicht so sehr blockiert.
Bevor ich auf die Toilette ging, bestand das Problem: Mir war nicht bewusst, dass ich mit meinem Gefühl die Aufstellung blockierte. Der Gruppe wiederum war nicht bewusst, dass ihre Sichtweise, ich sei gerade der einzige Leiter, den nächsten Schritt verhinderte. Diese Situation lässt sich vergleichen mit den Tendenzen in unserer Gesellschaft, eher auf so genannte „führende“ Persönlichkeiten zu schauen, auf deren Impulse und Veränderungen zu warten und auf sie zu reagieren. Dabei erkennt man nicht, dass man sich selbst für diese Ausrichtung entscheidet.
Ist man sich jedoch seiner Autonomie bewusst, dann schaut man nicht mehr nach außen, sondern man kann sich selbst bewusster wahrnehmen, eigene Impulse erkennen, die Initiative ergreifen und kreativ mit der momentanen Problemsituation umgehen.
Vieles kann sich von allein durch gemeinsame Zusammenarbeit regeln – ohne die Präsenz einer ständig verantwortlichen Person, die führt und anleitet. Und man selbst ist als dazugehöriges Element durch seinen persönlichen Standpunkt und sein eigenes Gefühl maßgeblich an dieser Zusammenarbeit beteiligt.
Selbst eine führende Person hat in Wirklichkeit keine Verantwortung für andere, denn jeder ist immer frei, diese Führung anzunehmen oder sich zu entziehen, den Spiegel zu nutzen oder ihn ungenutzt zu lassen, dieser Führung durch die eigene Unterwerfung Macht zu geben oder die Macht selbst zu behalten.
Im Angesicht der Aufstellungs-Phänomene kann sich diese Gewohnheit (auf andere zu schauen) nun allmählich dahin entwickeln, dass wir mehr auf uns selbst schauen.
Die Sichtweise, dass wir Menschen alle voneinander getrennt sind und danach suchen, wie wir eine Verbindung untereinander herstellen können, kann sich schrittweise auflösen. Stattdessen reift das Weltbild, dass wir alle von vornherein tief miteinander verbunden sind. Wir können nun untersuchen, was zu den momentan vorhandenen (scheinbaren) Trennungen führt und was sie verändern kann.
Meine Erfahrung ist: Je deutlicher ich mir die Verbundenheit zwischen allen Wesen ausmale, je deutlicher ich mir vorstelle, dass ich mit allem auf einer tiefen Ebene in Verbindung stehe, in Resonanz mit allem bin, desto eigenständiger fühle ich mich, desto „freier“ folge ich meinen Impulsen und Gefühlen, umso ernster kann ich sie nehmen und umso besser verstehe ich sie.
Sind wir also in einer Aufstellungsgruppe für einen Leitungswechsel offen, kann dies der Aufstellung insofern helfen, dass bestimmte Erwartungen einzelner Personen nicht mehr eine so starke Bremswirkung auf den Fluss der Aufstellung haben. Sobald einer seine Leitung abgibt und sich zurückzieht, hat auch seine Erwartung weniger Einfluss.
Ein weiteres Beispiel für einen Wechsel in der Leitung:
Ich begleitete eine Aufstellung, bei der ich als Organisator frei meinen Impulsen folgen durfte. Die aufstellende Person hatte dies erlaubt. Ab einer bestimmten Stelle blieb die Aufstellung bewegungslos in einem Ungleichgewicht stehen. Keiner in der gesamten Gruppe wusste weiter.
Plötzlich kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht weiterhelfen könnte, wenn ich mich in dieser Situation noch einmal mit meinen Träumen auseinandersetzte. Die Träume der vergangenen beiden Nächte hatten mir etwas gespiegelt, was ich bis zu diesem Moment noch nicht verstand.
Es ging darum, dass etwas in mein Elternhaus eindrang und ich dieses Eindringen mit all meinen Kräften und Überlegungen aufhalten wollte. Einmal war es eine Person, die aggressiv die Fenster einschlug, und beim nächsten Mal waren es Massen von Schnecken, Ameisen, Fröschen, die in den Keller eindrangen, und ein Specht, der sich unter der Terrasse riesige Höhlen gebaut hatte.
Ich begab mich also in die Aufstellungssituation und setzte mich neben eine Stellvertreterin. Ohne mich direkt um die Aufstellung zu kümmern, schloss ich die Augen und versetzte mich zurück in meine Träume. Nach einer Weile konnte ich die Eindringlinge zulassen und merkte, dass es genau das war, worum es ging. Ich erkannte, dass hier Aggression integriert werden wollte. Und mit einem Mal wusste ich, dass ich in dieser Aufstellung ab jetzt der Stellvertreter für Aggression war. Ich stand auf, ohne etwas über meine Rolle mitzuteilen, ging durch den Raum, löste als „Aggression“ in den anderen Stellvertretern unterschiedliche Reaktionen aus, die alle ins Gesamtbild passten, und am Ende konnte mich die aufstellende Person innig umarmen.
Erst jetzt erzählte ich, dass ich ihre Aggression war und sie soeben diesen Teil von sich, diese „Kraft“, diese Energieform integriert hatte. Sie war sehr berührt, und wir erkannten alle den Zusammenhang, denn vor der Aufstellung hatte sie davon erzählt, dass sie viel von ihren Eltern geschlagen worden war.
Nun konnten sich ihre Angst und ihre Unsicherheit gegenüber Aggressionen verringern. Sie fühlte sich ausgeglichener und kraftvoller.
In diesem Prozess bearbeitete ich während einer Aufstellung zuerst ein eigenes Thema, reifte daran, erweiterte so meinen Horizont und konnte anschließend der Aufstellung weiterhelfen. Dadurch, dass ich meine Sichtweise wechselte, vollzog sich hier der „Wechsel in der Leitung“ nicht zwischen zwei Personen, sondern innerhalb einer Person. Auch hier zeigt sich, wie die Leitung einerseits einen bremsenden andererseits einen fördernden Einfluss auf die Aufstellung haben kann.
Fühlt also jemand, dass er der Aufstellung einen fördernden Impuls geben könnte, so sollte er – wenn die aufstellende Person den Raum dafür freigegeben hat – seine Idee oder sein Gefühl ausleben und damit kurz die Leitung übernehmen. Anschließend kann er sie wieder abgeben, so dass Raum für einen neuen Impuls entstehen kann, egal ob von der gleichen Person oder von einer anderen.
Ob dies förderlich war, kann daran abgelesen werden, dass sich in der Aufstellung bzw. bei der aufstellenden Person etwas lösend verändert. War der Impuls nicht förderlich, so wurde es wenigstens versucht und eine weitere Erfahrung gemacht.
Ideal ist, einfach in der Gruppe aktiv zu sein, ohne dabei das Gefühl von „Leitung“ zu haben. So wird die Aktivität zu etwas Natürlichem. Denn jeder Mensch hat im Grunde auf natürliche Weise eine Leitungsfunktion, wenn er durch eine Handlung oder Äußerung die Aufmerksamkeit anderer Menschen auf sich zieht.
(ab Seite 56:)
Die aufstellenden Teilnehmer leiten
Die Möglichkeit des Wechsels in der Leitung (in der Ideengebung) einer Aufstellung wird besonders durch die Sichtweise unterstützt, dass jeder die Verantwortung für sich selbst trägt.
Jeder Teilnehmer, der die Leitung kurzzeitig übernommen und seine Ideen mitgeteilt hat, kann sie zu jedem Zeitpunkt der Aufstellung leichter wieder abgeben, wenn er sich bewusst ist, keine Verantwortung für andere zu haben. Der „Druck“, sich um ein anderes Gruppenmitglied kümmern zu müssen, kann sich in ein unverbindliches Hilfsangebot verwandeln. Dabei behält man immer die Wahl, ob man diese Hilfe anbieten möchte und wann man sie beendet.
Dieser freie Wechsel ist jedoch nicht allein kennzeichnend für eine Freie Aufstellung. Freier wird sie erst dadurch, dass der aufstellende Teilnehmer selbst frei entscheiden kann, in welcher Form seine Aufstellung ablaufen soll (soweit er Kenntnisse über die Möglichkeiten besitzt).
- Wünscht er eine Freie Aufstellung, an der alle gemeinsam arbeiten, in wechselnden Leitungsrollen, ohne einen festen Aufstellungsleiter?
- Wünscht er, die Aufstellung selbst zu führen, den Stellvertretern Fragen zu stellen, auszuprobieren, was besser wäre, was lösen könnte, was hilft und was bewegt?
- Wünscht er, dass alle Stellvertreter schweigend ihren Bewegungsimpulsen folgen?
- Wünscht er, dass die beobachtende Gruppe sich heraushält und nur die Stellvertreter aktiv sind?
- Wünscht er, sich selbst einmal an verschiedene Standpunkte von Stellvertretern zu stellen, um die Gefühle dort kennenzulernen und auf seine Weise nachzuvollziehen?
- Wünscht er, dass die Aufstellung nach traditioneller Art von einem festen Aufstellungsleiter begleitet und geführt wird und dass dieser empfiehlt, was günstigstenfalls zu tun wäre?
- Wünscht er sich eine andere Form von Aufstellung (z. B. „Familienstellen nach Bert Hellinger“ oder eine „Strukturaufstellung nach Varga von Kibéd und Sparrer“ oder eine „Organisationsaufstellung“)?
- Wünscht er, von einer erfahrenen Person darüber unterrichtet zu werden, wie diese anderen Formen funktionieren könnten?
- Wünscht er, während der Aufstellung zwischen verschiedenen Formen zu wechseln?
Durch ihre Wünsche wird die aufstellende Person zum „Hauptverursacher“ für die Gruppendynamik und den Verlauf der Aufstellung. Die Gruppe richtet sich nach ihren Wünschen und Bedürfnissen nach Gleichgewicht. Die Aufstellung wird zum klaren Spiegel der aufstellenden Person und kann dementsprechend genutzt werden. Dadurch holt die Aufstellung den Aufstellenden genau auf der Ebene ab, auf der er sich gerade befindet.
Regel 4:
Die Entscheidung, in welcher Form eine Aufstellung abläuft und ob jemand Entscheidungen übernimmt, liegt bei dem aufstellenden Teilnehmer.
Auf diese Weise wird in den Freien Systemischen Aufstellungen eine Situation ausgeschlossen, bei der ein gastgebender Organisator oder ein Leiter ungefragt Entscheidungen für die Teilnehmer trifft.
Ein Teilnehmer kann immer selbst wählen, ob jemand eine konstante Leitung übernimmt (wobei jeder gewählte Leiter diese Aufgabe auch freundlich ablehnen darf). Und jeder trägt allein die Verantwortung für seine Entscheidungen.
Regel 5:
Jeder trägt Verantwortung nur für sich allein, sorgt für sich selbst und kümmert sich um die Erfüllung seiner eigenen Wünsche. Niemand trägt Verantwortung für einen anderen.
Es gibt bei den Freien Systemischen Aufstellungen einen positiven Nebeneffekt: Je klarer jeder seine Verantwortung bei sich selbst sieht, desto fließender kann sich die Aufstellung entfalten. Je bewusster sich jeder seiner Autonomie ist, desto intensiver kann die Energie in der Gruppe sein. Denn in zunehmendem Maße, wie jeder dazu bereit ist, die leitende Funktion auch wieder abzugeben (weil er keine Verantwortung für andere trägt), wächst die Flexibilität in der Gruppe. Sie kann daher schneller und vor allem klarer auf die momentane Situation reagieren und helfen.
Leitung heißt in diesem Zusammenhang nicht „Führung“ oder „Forderung“, sondern „Impulsgebung“ oder „Ideengebung“ (= die Aufmerksamkeit der Gruppe auf seine eigenen Ideen lenken).
Genau aus diesem Grund ist es für jeden möglich, diese freie Form der Aufstellung anzubieten und als Gastgeber und Organisator zu organisieren, denn es gibt viele Impulse oder Ideen aus der Gruppe.
(ab Seite 95:)
Was wirkt?
Nach der Aufstellung kann es sein, dass die Teilnehmerin sofort in eine Situation gerät, durch die sie aufgefordert wird, das Erkannte anzuwenden und umzusetzen (manchmal sogar noch innerhalb der Gruppe).
Es kann aber auch sein, dass erst am folgenden Tag Geschehnisse darauf hindeuten, dass sich etwas zu ändern beginnt.
Es gibt die Meinung, dass Aufstellungen mehrere Monate, vielleicht sogar Jahre benötigen, um ihre Wirkung entfalten zu können.
Oder es passiert auch gar nichts.
Alles ist möglich. Lassen Sie sich überraschen.
Schon öfter war ich in einem neuen Gleichgewicht angekommen und wurde kurz darauf mit unangenehmen Situationen konfrontiert. Ich setzte mich damit auseinander und konnte auf diese Weise die Herausforderung bewältigen und in mein neues Gleichgewicht integrieren.
Ich habe das Gefühl, dass wir manchmal erst dann bestimmten Schwierigkeiten begegnen, wenn wir durch unsere neu erworbenen Erkenntnisse dazu in der Lage sind, mit ihnen in gewisser Weise umzugehen.
Für mich ist es unklar, welche Wirkungen Aufstellungen eigentlich haben. Weder weiß ich, welche Theorie „allgemeingültig“ noch welche „wahr“ ist. Ich habe nur selbst bei unterschiedlichsten Gelegenheiten sehr interessante Erfahrungen mit Aufstellungen machen dürfen, und das hat mich bereits davon überzeugt, dass sie mir in bestimmten Situationen oder bei gewissen Fragen weiterhelfen können.
Anstatt zu behaupten, dass Aufstellungen generell bestimmte Wirkungen haben, Heilungen bringen oder Lösungen vollziehen können, ziehe ich lieber folgende Sichtweise vor:
Aufstellungen bieten uns die Möglichkeit, eine neue Art konkreter Erfahrung mit uns selbst zu machen. Wie wir dann mit dieser Erfahrung umgehen, bleibt uns überlassen.
Meiner Meinung nach wirkt nicht die Aufstellung, sondern wir sind es selbst, die durch diese neuen Erfahrungen und Erkenntnisse anschließend in der Lage sind, etwas zu verändern oder es auf eine neue Art und Weise zu betrachten.
Auch wenn sich manchmal etwas scheinbar von selbst verändert, schreibe ich dies nicht der Aufstellung, sondern unserem eigenen Unbewussten zu.
Stellen wir uns aber vor, dass eine Aufstellung „wirkt“, und konzentrieren uns zu sehr auf das Ergebnis, das wir uns von der Aufstellung wünschen, dann geben wir in diesem Fall Verantwortung ab und warten auf die Erlösung von außen.
Natürlich können wir auch die Erfahrung machen, dass sich nach einer Aufstellung „automatisch“ etwas verändert hat, dass da also etwas gewirkt haben muss. Ich glaube jedoch, dass diese Veränderung unwillkürlich von uns selbst ausgeführt wird. Das ist vergleichbar mit unserem Wachstum: Wir wachsen selbstständig, das wird nicht von außen angeregt. Doch wir tun dies unabsichtlich und unbewusst, es passiert einfach, ein Wunder der Natur.
Auf diese Weise sehe ich eine „Wirkung“ einfach nur als ein Zeichen für einen „Wachstumsschritt“ von uns selbst.
Eine Aufstellung kann auch unserem Bewusstsein etwas zeigen, so wie uns ein Spiegel auf einen Fleck in unserer Kleidung hinweisen kann. Wenn wir anschließend diesen Fleck gezielt beseitigen, hat nicht der Spiegel gewirkt, sondern unsere Erkenntnis, zu der wir mithilfe des Spiegels gelangen durften und die uns dazu befähigt hat, angemessen zu reagieren.
Diese Veränderungen beinhalten zusätzlich die Möglichkeit, dass unser neues Tun und unsere neue Betrachtungsweise aufgrund der Verbundenheit aller Wesen gleichzeitig für andere Menschen erspürbar sein können. Wir erleben manchmal nach einer Aufstellung, dass sich deren Verhalten uns gegenüber verändert hat. Doch das ist nicht der „Wirkung“ einer Aufstellung zuzuschreiben, sondern der Veränderung unseres Denkens und der Erweiterung unserer Sichtweisen. Diese Veränderung können andere mindestens auf un-bewusster Ebene wahrnehmen und reagieren dementsprechend neu.
Aber vielleicht haben wir uns einfach nur „zufällig gleichzeitig“ verändert?
Wenn sich in einer Aufstellung etwas lösen konnte und danach das ursprüngliche Problem verschwunden ist, wissen wir immer noch nicht, was die eigentliche Ursache des Problems war und wodurch sein Verschwinden angeregt wurde.
Es könnte ein bestimmter Lösungsschritt in der Aufstellung gewesen sein, eine Äußerung eines Stellvertreters, die Ausstrahlung eines spontanen Leiters, die Ausstrahlung eines Organisators oder unsere eigene Reaktion auf diese Ausstrahlungen. Es könnte uns aber auch die Erfahrung mit der gesamten Gruppe bewegt haben, eine bestimmte Erkenntnis, eine neue Sichtweise, die wir daraufhin entwickeln konnten, das Erleben einer fremden Aufstellung oder bereits schon unsere Entscheidung, eine Aufstellung mit diesem Thema überhaupt durchzuführen … wir wissen es nicht wirklich.
Mit diesem Eingeständnis, dass wir die Ursache nicht kennen, können wir verhindern, dass wir Denkmuster entwickeln, die zum Ziel haben, das Auftauchen eines Problems zu vermeiden.
Ein Beispiel:
Manchmal löst sich eine Spannung dadurch, dass eine aufstellende Person in ihrer Aufstellung ihren Eltern durch eine tiefe Verneigung Ehrerbietung zeigt. Wenn wir nun denken, dass wir ein bestimmtes Problem haben müssten, weil wir unsere Eltern nicht achten können, kann es sein, dass wir dadurch eher anfangen, ein Problem zu „erzeugen“. Auch könnten wir glauben, dass die Nichtachtung unserer eigenen Eltern dazu führt, dass unsere Kinder uns genauso wenig achten werden – womit wir den Kindern erst recht den Raum geben, so auf uns zu reagieren, denn wir „erwarten“ es ja.
Was aber, wenn wir das alles glauben – und eines unserer Kinder achtet und ehrt uns trotzdem? …
Und was ist, wenn wir unsere Eltern nicht achten, weil sie nicht geachtet werden wollen? Dann steckt doch hinter unserer Nicht-Achtung eine Achtung?!
In Wirklichkeit kennen wir nie die genauen Gründe, wann und weshalb ein Problem auftaucht oder verschwindet. Es ist wie bei der Börse oder beim Wetter – immer wieder sind Überraschungen möglich.
Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd sagen dazu, dass beispielsweise Kopfschmerz kein Zeichen von Aspirinmangel ist. Wenn wir also durch eine Aspirintablette den Kopfschmerz beseitigen konnten, wissen wir immer noch nicht, wodurch er entstanden ist. Und eigentlich wissen wir auch nicht, ob die heilende Wirkung tatsächlich nur von der Tablette ausging oder (zufällig) eine andere Veränderung in uns zur Heilung geführt hat.
Aus diesem Grund stelle ich keine Regeln auf, in denen empfohlen wird, wie man sich nach Aufstellungen verhalten sollte.
Ich kenne auch andere Sichtweisen von Aufstellungsleitern:
- Man sollte nach einer Aufstellung nicht mit der betroffenen Person über ihre Aufstellung reden, damit die Wirkung nicht beeinflusst oder zerredet wird.
- Die aufstellende Person selbst sollte nach der Aufstellung für eine Zeit nicht mit anderen über diese Aufstellung reden.
- Man sollte zu demselben Thema frühestens nach einem halben Jahr eine weitere Aufstellung durchführen, wenn überhaupt.
- Eine Aufstellung braucht Zeit und Raum, um ihre Wirkung entfalten zu können. Es könnte sein, dass man mit einer weiteren Aufstellung den Prozess stört.
Da jeder Recht hat, von seinem Standpunkt aus gesehen, und einen Teil der ganzen Wahrheit sehen kann, sind dies wertvolle Hinweise, die uns zeigen, was für kraftvolle Möglichkeiten wir haben, mit einer Aufstellung anschließend umzugehen.
Doch die endgültige Entscheidung, was für einen Teilnehmer wichtig und wirkungsvoll ist, fällt immer noch der Teilnehmer selbst. Er hat von seinem Standpunkt aus gesehen ebenso Recht, wenn er sich für einen anderen Umgang mit seiner Aufstellung entscheidet.
Wenn er will, kann er sich mit vielen Menschen darüber austauschen oder über dasselbe Thema noch am gleichen Tag eine weitere Aufstellung durchführen. Vielleicht kann diese Aufstellung etwas Wesentliches ergänzen? Und vielleicht ist ja das Stören eines angeregten inneren Prozesses wichtig und vielleicht sogar notwendig, weil die Chance besteht, dadurch ein noch besseres Gleichgewicht zu erreichen? Vielleicht ist ein Einwand eines Teilnehmers gegenüber dem gedeuteten Ergebnis einer Aufstellung auf einer übergeordneten Ebene wichtiger und löst weitere Bewegungen aus als das „kraftvolle Wirkenlassen einer Lösung?“
Wir wissen es nicht…
Von meinem Standpunkt aus denke ich: Egal, wie sich ein Mensch entscheidet, diese Entscheidung ist richtig und gehört dazu. Und wenn er sich gleich anschließend wieder umentscheidet, gehört auch das dazu. Jedes Problem ist zu jedem Zeitpunkt einzigartig und bedarf jedes Mal erneut der Suche nach einer neuen Lösung, nach einem Gleichgewicht. Vielleicht aber brauchen wir manchmal nur zu warten und das Wachstum ordnet etwas selbstständig in uns oder außerhalb von uns …
Jedes Ungleichgewicht liegt immer in der Gegenwart. Genauso wie wir im Spiegel nicht die Vergangenheit oder die Zukunft, sondern die Gegenwart sehen.
Eine Aufstellung spiegelt uns, welche In-„Form“ationen in welcher Form gegenwärtig vorhanden sind.
Diese Einstellung hilft mir, jederzeit flexibel zu bleiben und mich weiter zu öffnen, so dass mich das Leben immer wieder von neuem überraschen kann.
(ab Seite 153:)
Autonomie / Demut - ein Gegensatz?
Für den Begriff „Autonomie“ wird in Wörterbüchern angegeben: nach eigenen Gesetzen lebend, Eigengesetzlichkeit, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, Selbstbestimung(srecht), Freiheit.
Man führt eigene Entscheidungen aus.
Der Begriff „Demut“ wird wie folgt beschrieben: Gesinnung eines Dienenden, Liebe zum Dienen, Ergebenheit, Ergebung, Hingabe, tiefe Bescheidenheit, Opferbereitschaft, Selbsterniedrigung, Unterwürfigkeit, Nachgiebigkeit.
Man führt fremde Entscheidungen aus.
Widerspricht sich das?
Das hängt davon ab, ob wir es selbst als Widerspruch sehen.
Wenn sich der eigene Wunsch und der fremde Wunsch widersprechen, dann widersprechen sich auch Autonomie und Demut.
Entspricht der eigene aber dem fremden Wunsch, dann führt man die fremde und die eigene Entscheidung gleichzeitig aus, man handelt sowohl dienend als auch selbstständig.
Wer kennt nicht die Phase in seiner Kindheit, in der man das Bedürfnis entwickelte, etwas unbedingt „selbstständig“ tun zu wollen, beispielsweise den Hund auszuführen?
In dem Moment, in dem man motiviert den Entschluss dazu fasste, sagte die Mutter: „Könntest du bitte den Hund ausführen?“, und der Spaß war verdorben, denn die Selbstständigkeit war dahin.
Je klarer man die unüberwindbaren Abhängigkeiten und Bindungen bis hin zur nicht wahrnehmbaren Allverbundenheit (an)erkennt, desto selbstständiger, selbstsicherer und „erwachsener“ kann man sich fühlen.
Wenn wir von dem Weltbild der Verbundenheit ausgehen, dann sind wir nicht selbstständig, sondern von allem abhängig, „dienen“ also von Natur aus. Wir spüren zwar unseren eigenen Willen, können aber nicht wahrnehmen, dass er gleichzeitig der Wille einer uns übergeordneten Dynamik ist. Diese Wahrnehmung fehlt uns, gerade weil wir damit im absoluten Gleichgewicht sind, in absoluter Verbindung.
Wir nehmen deshalb nur das wahr, was sich unterscheidet, und unser Wille unterscheidet sich immer von dem Willen anderer Menschen und Elemente. Gleichzeitig sind sowohl unser Wille wie auch der Wille anderer immer Teile der übergeordneten Gesamtdynamik „Wunsch nach Gleichgewicht“. Bert Hellinger sagt dazu, dass wir vor etwas Höherem alle gleich sind.
Jeder Wille ist ein Wille Gottes, auch wenn sie sich untereinander zu widersprechen scheinen.
Wer so ein Weltbild hat, weiß sich in seiner Demut selbstständig und in seiner Selbstständigkeit demütig. Er lebt in einer selbstsicheren autonomen Haltung, in der er ständig bereit ist, etwas kennen, würdigen und achten zu lernen, so wie es ist.
Es gab Situationen, in denen mir diese nicht wahrnehmbare Verbundenheit besonders bewusst geworden ist: Ich saß in einem Buchladen an einem Tisch und las. Irgendwann schaute ich gedankenverloren vom Buch auf, sah in einiger Entfernung eine Frau an einem Buchregal stehen, die sich fast gleichzeitig suchend in meine Richtung umdrehte und auf den freien Stuhl an meinem Tisch blickte. Sie kam herüber, setzte sich und begann zu lesen.
Als ich über das Geschehene zu reflektieren begann, hatte ich den Gedanken, dass mein gedankenverlorenes Aufschauen und das suchende Umdrehen der Frau kein Zufall gewesen sein konnte. Es war eher, als ob ich auf einer unbewussten Ebene „ahnte“, dass sie nun gleich zu diesem Tisch kommen würde. Ich konnte nicht auf ihre äußere Bewegung oder ein Geräusch reagiert haben, dafür stand sie zu weit weg und drehte sich auch erst ganz kurz nach meinem Hinschauen um. Sie stand mitten in einer Gruppe von mehreren Leuten, aber mein Blick hatte sich spontan gezielt auf sie gerichtet.
Ich kenne es schon, dass ich manchmal etwas ahne, was dann auch eintritt. Doch dieses Mal hatte ich nicht einmal etwas gespürt, kein Gefühl hatte mich gesteuert. Erst nachdem alles bereits geschehen war, tauchte der Gedanke auf, dass mein absichtsloses, spontanes Aufschauen und der direkte Blick auf sie kein Zufall gewesen sein konnte. Eine Verbindung schien mich auf eine Weise „gesteuert“ zu haben, die ich nicht als Steuerung wahrnahm, also nicht spürte.
Rupert Sheldrake würde vermuten, dass ich durch Telepathie auf ihren Gedanken reagiert habe, besonders auf den Moment, in dem sie beschloss, sich einen Stuhl zu suchen. Das wäre ein sehr interessantes Phänomen von Telepathie, da es keine persönliche Verbindung zwischen uns gab; ich kannte diese Frau nicht.
Wenn ich nach einer Erklärung dafür frage, kommt mir folgende Antwort: Wir Menschen stehen durch die Allverbundenheit ständig miteinander in Kontakt, auch mit all unseren Gedanken. Es ist, wie wenn alle Computer ans Internet geschaltet und ständig zugänglich sind. Wir erhalten jedoch nur die Information, nach der wir fragen. Uns wird nur das bewusst, was für uns tatsächlich relevant ist und für das wir bereit sind.
Ein anderes Mal saß ich mit einer Gruppe aus einem Kinesiologie-Seminar an einem langen Tisch. Spontan lehnte ich mich zurück und sah links von mir direkt in zwei Augen. Ich war überrascht. Vier Plätze weiter hatte sich eine Frau zurückgelehnt und hinter den Rücken der anderen entlang in meine Richtung geschaut. Sie sagte, dass noch nie jemand so schnell auf ihren Blick reagiert hätte wie ich. Dabei hatte ich gar nicht das Gefühl, auf etwas reagiert zu haben. Ich habe einfach absichtslos gehandelt und bin plötzlich irgendwo gelandet – in ihrem Blick.
Ich glaube, wir erleben das alle ständig, wir wissen es nur nicht.
Wir können nicht wahrnehmen, wo unser Wille herkommt, weil wir mit der Quelle im absoluten Gleichgewicht sind, in vollkommener Verschmelzung.
In diesem Sinne „dienen“ wir in unserer Autonomie. Wir handeln, ohne dabei wahrzunehmen, dass unsere Handlung in einem größeren Zusammenhang steht.
Hier finden auch die scheinbaren Gegensätze „Konstruktivismus“ (wir konstruieren unsere Realität) und „Phänomenologie“ (wir beobachten Phänomene einer äußeren uns übergeordneten Realität) zusammen: Den Konstruktivismus können wir als einen Teil der Phänomenologie sehen. Wenn wir etwas konstruieren, ist unser Wille und unsere daraus folgende Handlung etwas, das genauso von einer übergeordneten Dynamik geleitet ist, wie die Gefühle von Stellvertretern in einer Aufstellung.
Der Konstruktivismus könnte der Teil der allumfassenden Phänomenologie sein, in dem wir uns nicht bewusst sind, dass unser konstruierender Wille gleichzeitig durch die Allverbundenheit geführt wird, oder besser: in einem großen Zusammenhang mit allem steht.
Überlege ich mir beispielsweise, wie ich eine Situation anders sehen (= konstruieren) könnte, dann sind der erste Einfall dazu, meine Überlegungen und die Art und Weise, wie ich es durchführe, phänomenologisch und stehen in einem höheren Zusammenhang.
Selbstwahrnehmung in vollkommener Verbundenheit
Hier gelange ich zu einer neuen Frage.
Am Anfang dieses Kapitels habe ich darüber geschrieben, dass wir nur uns selbst mit unserem eigenen Gehirn wahrnehmen und nicht wissen können, wie die eigentliche Wirklichkeit aussieht, wie sie beschaffen ist.
Auf den letzten Seiten erklärte ich, dass wir mit allem in Kontakt stehen und dadurch „Fernwahrnehmungen“ möglich sind.
Wie lässt sich das miteinander vereinen?
Da wir mit allem in Verbindung stehen, sind in uns auch alle Schwingungsmuster des Universums vorhanden. Wir „bestehen“ aus ihnen. Es sind ganz verschiedene Schwingungsmuster: langsame, schnelle, große, kleine, regelmäßige, unregelmäßige etc. Unser Körper spürt sie bewusst oder auf unbewusster Ebene durch den Wechsel von (Un-)Gleichgewichtsgefühlen.
Die Muster an sich sind völlig neutral und überall vorhanden. Doch welche Muster für uns wichtig sind, wie wir sie deuten und was wir aus ihnen machen, liegt ganz bei uns. Unsere Interpretation von allem hängt dabei von unserer eigenen Form ab: von unserer Beschaffenheit, unserem Wesen, unserer Sichtweise, unserem Weltbild, unserer gegenwärtigen Verfassung, unseren Glaubenssätzen, unseren Erfahrungen, unserem Standpunkt, unseren Zielen etc. – so wie das Klingeln unseres Handys von seiner Programmierung abhängt. Es ist darauf programmiert, eine ganz bestimmte Form der Schwingung umzusetzen. Alle anderen Schwingungen spürt es zwar auch, doch es reagiert nicht darauf.
Ob wir also auf eine Schwingung reagieren und ob wir sie für uns als Gleichgewicht oder Ungleichgewicht empfinden, liegt bei uns. Deshalb können wir alles als Spiegel nutzen. Jede Deutung und Interpretation einer Erfahrung ist ein Werk unseres eigenen Körpers, spiegelt uns unsere „Programmierung“, lässt sich deshalb verändern und in ein besseres Gleichgewicht bewegen.
Erfahrung ist nicht was einem Menschen widerfährt, sondern was er daraus macht. Das einzige, was uns widerfährt, sind die wertfreien Schwingungsmuster, die unser Körper wahrnimmt. Dabei ist selbst diese Wahrnehmung schon ein relatives Ungleichgewicht, das durch die Form und den Standpunkt unseres Körpers bestimmt wird (denn im absoluten Gleichgewicht existiert ja keine Wahrnehmung).
Was ist Verantwortung?
Ein Element, das Verantwortung hat, das ver-„Antwort“-et ist, hat die Aufgabe, eine Antwort zu geben. Eine Antwort ist eine Reaktion auf etwas.
In Bezug auf unsere Gefühle kann uns kein Mensch helfen zu spüren oder zu entscheiden, was für uns ein Ungleichgewicht ist und was nicht. Das können nur wir ganz alleine wahrnehmen und erfahren. Und so können wir uns die Antwort auf die Frage nach einem Ungleichgewicht auch nur selbst geben. Hier reagieren wir auf uns selbst, sind selbst ver-„Antwort“-lich.
Niemand anderes kann uns beantworten, wie wir uns fühlen.
Viele sind der Meinung, sich in einer Aufstellung als Stellvertreter durch die Allverbundenheit in andere Menschen einfühlen und sie über ihre Sinne wahrnehmen zu können. Doch das kann nur mithilfe der eigenen (Un-)Gleichgewichtsgefühle geschehen. Man ist also ver-„Antwort“-lich für das, was man wahrzunehmen glaubt. Genauso wie für die Deutungen, Interpretationen, Einordnungen und Reaktionen auf diese Wahrnehmung.
Fühlen wir uns in eine Rolle als Stellvertreter ein, dann passen wir unseren inneren Zustand mithilfe von (Un-)Gleichgewichts-gefühlen an etwas an, mit dem wir über die Allverbundenheit in Kontakt sind.
Für diesen Anpassungsprozess, für diese Wahrnehmung und für unsere Reaktion darauf haben wir selbst die Verantwortung.
Wir können niemandem eine Antwort auf seine Frage geben, wie er sich fühlt.
Wir können nur beantworten, wie wir uns selbst fühlen.
Deshalb ist für mich in diesem Zusammenhang die Verantwortungsübergabe von einem Menschen zu einem anderen eine Illusion. Es gibt sie nicht.
(Der Einfachheit halber benutze ich statt „Verantwortungsabgabe und -übernahme“ das Wort „Verantwortungsübergabe“. An einer Übergabe sind beide Seiten aktiv beteiligt: Der eine gibt und der andere nimmt.)
Die Pflicht zu reagieren
Im gesellschaftlichen Zusammenleben bedeutet „Verantwortung für eine Sache“: über sie eine Antwort geben, im Zusammenhang mit dieser Sache reagieren und die Folgen tragen. In diesem Sinne ist Verantwortung eine ausgehandelte gesellschaftliche Pflicht. In dieser Pflicht sollte man bereit sein, für seine Handlungen einzustehen und die Folgen zu tragen.
Wenn Eltern Verantwortung für ihre Kinder tragen, dann haben sie die Pflicht, nach bestem Wissen und Gewissen auf sie zu reagieren und für sie zu sorgen. Sie müssen die Folgen tragen, wenn den Kindern etwas zustößt oder wenn sie etwas anstellen.
Doch sie haben nicht die Verantwortung dafür, wie sich die Kinder fühlen und was die Kinder aus der elterlichen Hilfe und Fürsorge machen. Hier ist das Kind eigenverantwortlich.
Wir können einem Baby die Nahrung in den Mund geben, aber für das Schlucken und sein Wachstum trägt es selbst Verantwortung.
Wenn ein Pfleger sich um einen alten oder behinderten Menschen kümmert und die Verantwortung für ihn hat, dann hat er die Pflicht, nach bestem Wissen und Gewissen auf ihn zu reagieren, für ihn zu sorgen und ihm Hilfe zu leisten.
Doch er hat nicht die Verantwortung dafür, wie sich dieser Mensch fühlt und was er aus der Fürsorge und Hilfe des Pflegers macht. Hier ist der Mensch selbst verantwortlich.
Wir können eine Pflanze gießen, doch für ihr Wachstum ist sie selbst verantwortlich.
Wir können einem Menschen auf seine Frage antworten, aber der andere hat die Verantwortung dafür, was er aus unserer Antwort macht und ob er sie überhaupt als passende Antwort empfindet.
Wir können einem Menschen die Tür öffnen, aber durchgehen muss er selbst.
Wir können einem Menschen eine Erkenntnis mitteilen, aber zuhören, verstehen und nachvollziehen muss er es selbst.
Wir können zu einem Menschen Nähe herstellen, aber es als wirkliche Nähe zu empfinden, liegt in seiner Verantwortung.
Wir können einem im Koma liegenden Menschen nach bestem Wissen und Gewissen helfen, aber die Verantwortung, ob der Körper die Hilfe annimmt, trägt der Körper selbst.
Wenn ein Arzt die Verantwortung für einen Kranken hat, dann hat er die Pflicht, nach bestem Wissen und Gewissen auf ihn zu reagieren, sich um ihn zu kümmern und ihm seine Hilfe anzubieten. Doch er hat nicht die Verantwortung dafür, wie sich dieser Mensch fühlt und was er aus der Hilfe des Arztes macht. Hier ist der Mensch selbst verantwortlich.
Wenn ein Seminarleiter die Verantwortung für seine Teilnehmer hat, dann hat er die Pflicht, nach bestem Wissen und Gewissen auf sie zu reagieren, sich um sie zu kümmern und ihnen seine Hilfe anzubieten.
Doch er hat nicht die Verantwortung dafür, was die Teilnehmer aus seiner Hilfe machen und wie sie sich damit fühlen. Hier sind sie selbst verantwortlich.
Hat ein Seminarleiter überhaupt eine Verantwortung für seine Teilnehmer? Das hängt davon ab, ob er sich zu etwas verpflichtet hat und ob die Teilnehmer dieser Pflicht zugestimmt haben.
Hat diese Verpflichtung nicht stattgefunden, dann hat der Leiter auch keine Verantwortung für seine Teilnehmer. Er hat nur die Verantwortung für sich selbst, für seine Handlungen und Entscheidungen. Er muss also nur die Folgen von dem tragen, was er selbst tut. Was seine Teilnehmer fühlen, was sie entscheiden und wie sie handeln, ist allein ihre Verantwortung. Sie sind selbst verantwortlich.
Wenn jemand sagt, eine Person trage eine „Mitverantwortung“, dann muss zuerst geklärt werden, in welchem Bereich sich diese Person absichtlich oder unbewusst automatisch zu etwas „verpflichtet“ hat. Dort trägt sie Verantwortung.
Die verantwortliche Ursache
Suchen wir nach der Ursache eines Geschehnisses, dann sprechen wir oft auch davon, was wohl dafür „verantwortlich“ ist. Meistens stellt sich heraus, dass mehrere Faktoren zusammengewirkt haben. Es gibt oft keine klare Ursache, also lässt sich auch die Verantwortung nicht klar zuweisen. Stoße ich beispielsweise den ersten Dominostein um, der mit anderen Dominosteinen hintereinander in einer Reihe steht und dadurch zu einer Kettenreaktion führt, durch die schließlich auch der letzte Stein auf den Boden kippt, wer ist dann dafür verantwortlich, dass dieser letzte Stein umgefallen ist?
Zuerst würden wir sagen, dass derjenige die Verantwortung trägt, der den ersten Stein berührt hat.
Wenn er aber gar nicht sehen konnte, dass hinter dem ersten Stein noch ein zweiter war, weil dieser Stein im Dunkeln stand?
Oder dieser Mensch wurde von einem anderen Menschen aus dem Gleichgewicht gebracht und hat dabei unabsichtlich diesen Stein umgestoßen.
Und wenn er selbst diese Dominoreihe gar nicht aufgebaut hat?
Angenommen, zwanzig Personen haben an dem Aufbau dieser Reihe mitgewirkt – jeder hat einen Stein hingestellt – dann sind alle dafür verantwortlich, dass jeder Stein beim Umfallen einen nächsten und schließlich den letzten anstoßen konnte.
In Amerika könnte es sein, dass der Hersteller der Dominosteine für den Fall des letzten Steines verantwortlich gemacht wird, weil er nicht darauf hingewiesen hatte, dass so etwas passieren könnte. Außerdem gibt es eine große Zahl an zuschauenden Menschen, die das Umfallen des letzten Steines nicht verhindert haben …
Oder ist die Erdanziehungskraft verantwortlich?
Die Zahl der Verursacher und Verantwortlichen ist also sehr hoch.
Wenn alle Wesen und Dinge durch ihre Verbundenheit miteinander an dem beteiligt sind, was geschieht, können wir behaupten, dass alles für alles (mit-)verantwortlich ist. Jeder ist ein „Mittäter“ innerhalb eines komplexen Netzwerkes. Wirkt im gesamten Universum der Wunsch nach Gleichgewicht und macht durch seine Existenz ein Geschehnis möglich, können wir die Verantwortung dafür bei dieser Dynamik sehen und alle beteiligten Dinge und Wesen von jeglicher Verantwortung freisprechen. Wir sind alle „Opfer“ dieser Ausgleichsdynamik.
Mein Fazit: Jeder hat selbst die Verantwortung dafür, wen oder was er als „verantwortlich“ bezeichnet.
Trägt ein Mensch innerhalb der Gesellschaft eine Verantwortung für etwas Bestimmtes und muss dafür die Folgen tragen, dann ist das ein Ergebnis einer grundsätzlichen Absprache zwischen uns Menschen, ihn als „dafür verantwortlich“ zu bezeichnen. Wir haben es so entschieden und festgelegt.
Behauptet also jemand, Seminarleiter tragen generell eine (Mit-) Verantwortung für ihre Teilnehmer, dann hat er genauso Recht wie derjenige, der behauptet, Seminarleiter tragen generell keine Verantwortung für andere.
Es hängt davon ab, von welchem Standpunkt aus wir es betrachten. Und jeder sieht von dort einen Teil des Ganzen.
Egal welchen Standpunkt wir wählen: Für die Wahl unseres Standpunktes, für die Deutung unserer Erfahrungen, für das, was wir wahrnehmen und worauf wir auf welche Weise reagieren, sind wir immer selbst verantwortlich.
In diesem Zusammenhang ist Verantwortungsübergabe eine Illusion....